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Grundzüge

Präambel zum Grundsatz-Programm 2002  BÜNDNIS 90 DIE GRÜNEN

Im Mittelpunkt unserer Politik steht der Mensch mit seiner Würde und seiner Freiheit. Die Unantastbarkeit der menschlichen Würde ist unser Ausgangspunkt. Sie ist der Kern unserer Vision von Selbstbestimmung und Parteinahme für die Schwächsten. Als Vernunftwesen ist der Mensch in der Lage zu einem verantwortlichen Leben in Selbstbestimmung. Als Teil der Natur kann der Mensch nur leben, wenn er die natürlichen Lebensgrundlagen bewahrt und sich selbst demgemäß Grenzen setzt. Der Schutz der Natur und ihrer Lebensformen ist auch um ihrer selbst willen geboten. Jeder Mensch ist einzigartig und verdient gleiche Anerkennung – heute und morgen, hier und anderswo. Deshalb ist bündnisgrüne Politik dem Maßstab der Gerechtigkeit verpflichtet. Freiheit und Gerechtigkeit lassen sich nur in einer lebendigen Demokratie verwirklichen.

Demokratie ist Basis und Art und Weise unseres politischen Handelns. Vor 20 Jahren gegründet, aus den Oppositionskulturen der beiden deutschen Staaten gewachsen, haben wir gemeinsam schon viel erreicht und noch mehr vor. Unsere Vision ist eine Welt, in der die natürlichen Lebensgrundlagen geachtet und bewahrt werden. Unsere Vision ist eine Gesellschaft, in der die Menschenrechte unteilbar und universell gültig sind und in der Selbstbestimmung in Verantwortung verwirklicht werden kann. Unsere Vision ist die Verwirklichung von Gerechtigkeit in allen ihren Dimensionen. Wir stärken die Demokratie und verteidigen sie gegen Angriffe.

Uns eint, uns verbindet ein Kreis von Grundwerten, nicht eine Ideologie. Aus vielfältigen Wurzeln sind BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zusammengewachsen. Wir haben als Partei der Ökologie linke Traditionen aufgenommen, wertkonservative und auch solche des Rechtsstaatsliberalismus. Die Frauenbewegung, die Friedensbewegung und die Bürgerrechtsbewegung in der damaligen DDR haben das Profil unserer Partei mit geprägt. In Ost wie West waren Christinnen und Christen an der Entwicklung von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN aktiv beteiligt. So haben wir zu einer eigenständigen politischen und gesellschaftlichen Perspektive zusammengefunden.

Unsere Grundposition heißt: Wir verbinden Ökologie, Selbstbestimmung, erweiterte Gerechtigkeit und lebendige Demokratie. Mit gleicher Intensität treten wir ein für Gewaltfreiheit und Menschenrechte. In ihrer Wechselbeziehung öffnen diese Grundsätze den Horizont bündnisgrüner Visionen. Wir laden alle zur Mitarbeit ein, die sich diesen Zielen verpflichtet fühlen. Wir wollen die Ideen, die Kritik und den Protest von Bürgerinnen und Bürgern aufnehmen, sie zu Aktivität ermutigen und ganzheitliche Konzepte entwickeln. Unser Denken ist von Anfang an ökologisches Denken. Wir verbinden die aufklärerische Tradition mit der durch die Ökologie neu ins Bewusstsein gedrungenen Erfahrung der Grenzen des Industrialismus. Wir nehmen Abstand von unkritischem Fortschrittsglauben, sei er sozialistischer, sei er kapitalistischer Ausprägung. Als Partei der Ökologie geht es uns um die Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen, die durch industriellen Raubbau und überschießenden Ressourcenverbrauch gefährdet sind. Bewahren können wir nicht durch ein Zurück, sondern nur indem wir die heutigen Industriegesellschaften nachhaltig verändern.

Ökologie ist eine unverzichtbare Dimension der Modernisierung unserer Gesellschaft. Mit der ökologischen Erweiterung des Gesellschaftsvertrages setzen wir Bündnisgrünen der Zukunftsvergessenheit traditioneller Politik unsere Politik der Verantwortung für die künftigen Generationen und unsere Mitwelt entgegen. Umweltpolitik als gesamtgesellschaftliche Politik hat mit der Nachhaltigkeit einen grünen Leitbegriff gewonnen. Nachhaltigkeit bedeutet die zukunftsfähige Verbindung von ökologischer, sozialer und wirtschaftlicher Entwicklung. Dabei ist die Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen unser zentrales Anliegen. Produktion und Konsumtion müssen so gestaltet werden, dass sie nicht heute die Lebenschancen von morgen zerstören. Ökologie verlangt nachhaltige Wirtschafts- und Technikpolitik. Nachhaltigkeit ist kein allein national zu bewältigendes Ziel; sie verlangt internationale Kooperation. Nur wenn die Wende zur Nachhaltigkeit weltweit gelingt, wird unsere Lebensweise zukunftsfähig. Nachhaltigkeit meint auch die Entwicklung von Lebensstilen, die Behutsamkeit und Achtung vor dem Leben zur Grundlage haben. Ökologisch reflektierte Lebensstile enthalten einen Zuwachs an Lebensqualität für alle. Nachhaltigkeit heißt Lebensqualität für heute und morgen.

Wir treten ein für Emanzipation und Selbstbestimmung. Vielfältige emanzipatorische Bewegungen, libertäre und liberale Traditionen prägen gemeinsam diese freiheitliche Orientierung. Wir wollen eine Gesellschaft, in der die Menschen eine Chance haben ihr Leben selbst zu gestalten – frei von Bevormundung. Wir wissen, dass die Freiheit der Einzelnen an rechtliche und soziale Voraussetzungen gebunden ist. Wir setzen uns dafür ein, dass nicht nur eine privilegierte Minderheit die Freiheit wahrnehmen kann, ihr Leben selbst zu gestalten. Selbstbestimmung schließt ökologische und soziale Verantwortung ein. Den Begriff der Freiheit überlassen wir nicht jenen, die ihn mit Vorliebe verengen auf reine Marktfreiheit, die Freiheit des Ellenbogens. Freiheit ist die Chance zur Emanzipation und Selbstbestimmung über soziale und ethnische Grenzen oder Unterschiede der Geschlechter hinweg. Dazu müssen sich die Menschen in frei gewählten Zusammenschlüssen engagieren können. Das gilt gerade auch für Minderheiten. Verantwortung für die Zukunft kann nur durch selbstbestimmte Individuen gewährleistet werden. Wir wollen die Einzelnen stärken und die Gesellschaft, in der sie ihre Freiheit und Verantwortung verwirklichen. Wir treten für einen demokratischen Rechtsstaat ein, der klare Rahmenbedingungen zur Sicherung der Freiheit und der Rücksichtnahme auf andere setzt. Selbstbestimmung findet ihre Grenze, wo sie die Freiheit und Selbstbestimmung anderer einschränkt. Wir wollen deshalb auch nicht in einer Weise leben, die Möglichkeiten für Selbstbestimmung der Menschen in anderen Ländern oder künftiger Generationen untergräbt oder zerstört. Gerechtigkeit geht weiter.

Bündnisgrüne Politik orientiert sich am Grundsatz der Gerechtigkeit. Gerechtigkeit verlangt eine gerechte Verteilung der gesellschaftlichen Güter Das erfordert insbesondere eine Parteinahme für die sozial Schwächsten. Verteilungsgerechtigkeit auch in unserer eigenen Gesellschaft bleibt in Zukunft unverändert von Bedeutung. Weil Gerechtigkeit eine Antwort geben muss auf die Probleme einer veränderten Welt, geht aber unsere Vorstellung von Gerechtigkeit über traditionelle Verteilungspolitik hinaus. Bündnisgrüne Politik steht für Teilhabegerechtigkeit, für Generationengerechtigkeit, für Geschlechtergerechtigkeit und für Internationale Gerechtigkeit. Diese Dimensionen von Gerechtigkeit dürfen trotz praktischer Konflikte nicht gegeneinander ausgespielt werden. Gerechtigkeit verlangt Solidarität und bürgerschaftliches Engagement. Geschlechtergerechtigkeit. Gerechtigkeit meint auch Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern. Hier hat bündnisgrüne Politik viel erreicht. Aber noch immer ist die gleiche Definitionsmacht von Frauen und Männern für die gesellschaftliche Entwicklung nicht verwirklicht. Vereinbarkeit von Familie und Beruf für beide Geschlechter ist nicht gewährleistet. Solange es ein Gefälle in der Verteilung von Machtpositionen, Einkommen und Zeit zu Lasten von Frauen gibt, ist diese Gerechtigkeitsfrage ungelöst. Teilhabegerechtigkeit soll allen Menschen Zugang verschaffen zu den zentralen gesellschaftlichen Ressourcen: Arbeit, Bildung und demokratische Mitbestimmung. Gerechter Zugang muss immer wieder bewusst gegen die vorhandene soziale Ungleichheit hergestellt und institutionell abgesichert werden. Bildung entscheidet in unserer Gesellschaft maßgeblich über die Möglichkeit zur Gestaltung des eigenen Lebens. Arbeit bringt die eigenen Fähigkeiten zum Tragen und betrifft einen wichtigen Teil unserer Identität. Mitbestimmung ist Grundvoraussetzung dafür, sich in die Gesellschaft einzubringen und diese mitzugestalten. Generationengerechtigkeit. Unser alter Slogan „Wir haben die Erde von unseren Kindern nur geborgt“ ist heute aktueller denn je. Durch ökologischen Raubbau und zukunftsvergessene Sozial-, Wirtschafts- und Finanzpolitik steht die Zukunft unserer Kinder auf dem Spiel. Dagegen treten wir ein für Generationengerechtigkeit. Internationale Gerechtigkeit muss umso mehr gelten, je mehr eine globale Wirtschaft Menschen in aller Welt miteinander verbindet und voneinander abhängig macht. Sie bezieht sich insbesondere auf die Menschen außerhalb der Wohlstandsregionen unseres Planeten. Nachhaltigkeit auf der industrialisierten Nordhalbkugel darf nicht zu Lasten der Länder des Südens definiert werden. Solidarität. Gerechtigkeit braucht Solidarität und bürgerschaftliches Engagement. Solidarität lebt durch selbstbewusste Individuen; sie stärkt die Bürgerinnen und Bürger, anstatt sie zu entmündigen. Die Alternative zwischen den Befürwortern eines bevormundend-fürsorglichen Staates und den Propagandisten von „Je weniger Staat, desto besser“ ist überholt. Der Staat soll die öffentlichen Aufgaben nicht dem freien Spiel der Kräfte überlassen. Er soll sie auch nicht anstelle der Gesellschaft lösen, sondern mit den Bürgerinnen und Bürgern zusammen. Investieren wollen wir daher auch in Netzwerke und Gemeinschaften, in denen wechselseitige Hilfe praktiziert wird. Der Staat kann die Bürgerinnen und Bürger dann für mehr Verantwortung für das Gemeinwesen gewinnen, wenn er sie darin unterstützt.

Unser Denken gründet auf der Demokratie. Zur Demokratisierung unserer Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten haben auch wir einen wichtigen Beitrag geleistet. Demokratie ist der Ort, an dem freie Willensäußerung und gleiche Anerkennung zusammenfinden. Radikaldemokratische, feministische, partizipatorische und multikulturelle Anstöße bringen wir ein in die Weiterentwicklung des Rechtsstaates. Im Bewusstsein historischer Verantwortung treten wir ein gegen Rassismus und Antisemitismus, Rechtsextremismus und jeglichen anderen Extremismus. Wir wollen nicht beim Status quo stehen bleiben, sondern die Demokratie weiterentwickeln zu einer vielfältigen Demokratie mit direkten Beteiligungsmöglichkeiten für die Bürgerinnen und Bürger. Demokratische Politik ist etwas anderes als möglichst effektiver Vollzug von Sachzwängen. Politik soll die Wahl zwischen Alternativen ermöglichen. Oftmals erweisen sich Sachzwänge als vermeintliche. Transparenz und Klarheit bei der Erarbeitung von Entscheidungsalternativen ist für bündnisgrüne Politik entscheidend. Dazu gehört auch die Offenlegung von Machtstrukturen und Interessen. Für einen solchen Weg der Renaissance des Politischen wollen wir sowohl die Stärkung der parlamentarischen Demokratie wie eine Stärkung der Bürgerbeteiligung in allen staatlichen und gesellschaftlichen Bereichen. Demokratie kann angesichts der Entwicklung zur Weltgesellschaft nicht national beschränkt bleiben. Auf der Agenda steht die Weiterentwicklung der internationalen Beziehungen aus demokratischer Perspektive. Die Vollendung der Einigung Europas und die Vertiefung der Europäischen Union spielt dabei eine herausragende Rolle. Wir unterstützen einen demokratischen Verfassungsprozess in Europa, in dem die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger respektiert werden, die Rolle der Nationen anerkannt, aber auch die Vielfalt der Regionen als Stärke begriffen wird. Über Europa hinaus müssen die Vereinten Nationen als politisches Dach der internationalen Gemeinschaft gestärkt werden. Zwei Grundprinzipien sind und bleiben für unsere Politik von zentraler Bedeutung: Unser Eintreten für Menschenrechte und unsere Politik der Gewaltfreiheit. Menschenrechte. Unser Grundwert der Selbstbestimmung prägt sich aus in der Universalität und Unteilbarkeit der Menschenrechte. Die von den Vereinten Nationen verbrieften Menschenrechte sind für uns nicht verhandelbar – weder gegenüber machtpolitischen oder wirtschaftlichen Interessen noch gegenüber einem falschen kulturellen Relativismus. Die Würde jedes Menschen ist unantastbar. Dies zu gewährleisten ist Selbstverpflichtung nationaler und internationaler grüner Politik. Individuelle Freiheitsrechte, politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, das Recht auf Entwicklung und ökologische Rechte gehören für uns zusammen. Gewaltfreiheit. Bündnisgrüne Politik ist Politik für Gewaltfreiheit. Das Ziel der Gewaltfreiheit folgt aus den Grundwerten der Selbstbestimmung, der Gerechtigkeit und der Demokratie. Um Gewalt präventiv zu verhindern und Frieden auf Dauer fest zu gründen, muss Demokratie weltweit gefördert werden, muss Gerechtigkeit über die Grenzen einzelner Nationen hinaus gelten, müssen ökologische Krisen vermieden werden und die universellen Menschenrechte weltweit Geltung gewinnen. Unsere Politik ist darauf gerichtet, international die Geltung des Rechts zu fördern, Konfliktprävention voranzustellen und die Anwendung von Gewalt immer weiter zurückzudrängen. Gewalt darf Politik nicht ersetzen. Das allgemeine Gewaltverbot, das in der Charta der Vereinten Nationen festgeschrieben wurde, stellt eine große zivilisatorische Errungenschaft und einen bedeutenden völkerrechtlichen Fortschritt dar. Damit wurde ein wichtiger Schritt getan, um dem Krieg seine Selbstverständlichkeit als Mittel der Politik zu entziehen. Anwendung militärischer Gewalt und insbesondere der Einsatz von Massenvernichtungswaffen bedeutet Töten und Verstümmeln von Menschen, hat Zerstörung und Verfeindungen zur Folge und kann nach wie vor in eine globale Katastrophe münden. Wir wissen aber auch, dass sich die Anwendung rechtsstaatlich und völkerrechtlich legitimierter Gewalt nicht immer ausschließen lässt. Wir stellen uns diesem Konflikt, in den gewaltfreie Politik gerät, wenn völkermörderische oder terroristische Gewalt Politik verneint. Unser Ziel ist, in allen gesellschaftlichen und zwischenstaatlichen Bereichen gewaltfreie Konfliktlösungen zu fördern, um die politische Institution des Krieges zu überwinden. Dazu setzen wir uns in allen Politikfeldern für die Stärkung einer Kultur der Gewaltfreiheit und der Prävention ein. Die Welt um uns herum wird von revolutionären Veränderungen umgestaltet – angetrieben von der ökonomischen, der wissenschaftlichen und der kulturellen Entwicklung. Die Stichworte dafür heißen Ökologische Herausforderung, Globalisierung, Individualisierung, neue Informationstechnologien, Bio- und Gentechnologie, demografischer Wandel, Migration und Veränderung im Geschlechterverhältnis. Wir sehen die Gefahren und wir sehen die Möglichkeiten und Chancen. Zukunftstaugliche Politik will erreichen, dass wir politisch, gesellschaftlich und kulturell gestalten. Wir wollen nicht von Sachzwängen überrollt werden, sondern verschiedene Entwicklungspfade beschreiben. Dies beginnt mit dem Betrachten der Wirklichkeit. Deswegen üben wir Kritik an einer Wirtschaftsweise, die den Verbrauch natürlicher Ressourcen irreversibel vorantreibt. Der Profit von heute kann so zur ökologischen Schuldenlast von morgen werden. Deswegen üben wir Kritik an einer Verteilung des Reichtums zwischen Nord und Süd, die weite Teile dieser Erde fernhält von der Befriedigung der Grundbedürfnisse. Deswegen versuchen wir den Sozialstaat durch Reformen so zukunftsfähig zu machen, dass er der demografischen Herausforderung standhält. Deswegen kritisieren wir die Gentechnik da, wo sie den Menschen in seiner Würde angreift, indem sie ethische Grenzen ignoriert oder durch die Freisetzung gentechnisch veränderter Organismen unverantwortliche Risiken schafft.  Ökologische Herausforderung. Die Ökologiebewegung, deren politischer Ausdruck wir Bündnisgrünen sind, hat viel erreicht. Trotzdem und trotz vielfältiger nationaler und internationaler Anstrengungen nehmen Emissionen von Treibhausgasen und Umweltschäden weltweit zu. Die Klimaveränderung hat bereits begonnen. Sie wird bisher nicht übersehbare weltweite Auswirkungen mit sich bringen. Gelingt es nicht, die Tendenz umzukehren, drohen Katastrophen mit globalen Auswirkungen. Die Klimaveränderung ist aber keineswegs das einzige große ökologische Risiko. Landschaftsverbrauch, Artensterben, Waldvernichtung, Wüstenausbreitung und Verlust fruchtbarer Böden, Überfischung und Verseuchung der Meere schreiten fort.

Die bisherige Wirtschaftsweise der hochindustrialisierten Gesellschaften ist nicht globalisierbar. Die ökologische Herausforderung erfordert einen Umbau der ökonomischen und sozialen Systeme. Doch bündnisgrüne Politik erschöpft sich nicht im Warnen. Unsere Kompetenz liegt in der Gestaltung nachhaltiger Entwicklung. Ökologie ist ein unverzichtbarer Rahmen für verantwortbare Ökonomie geworden. Sie ist das Leitbild vieler technischer Innovationen. Das Umsteuern auf größtmögliche Energie- und Ressourceneffizienz ist eine zentrale Aufgabe der nächsten Jahrzehnte. Ökologisch reflektierte Lebensstile machen uns reicher. Globalisierung. Globalisierung verändert die Welt. Sie vernetzt und verbindet alle Gesellschaften auf dem Planeten. Grün als politische Bewegung ist aus weltweiter Verantwortung für den Zustand der Erde entstanden; auch daher können und wollen wir unsere Politik nicht auf den Rahmen nationalstaatlicher Programme beschränken. Globalisierung ist eine Herausforderung für uns. Wir wollen eine ökologisch nachhaltige, freiheitliche, demokratische und solidarische Welt gestalten, ohne Hunger, Armut und Krieg. Wir werden aktiv an der globalen Vernetzung der gesellschaftlichen und politischen Kräfte mitwirken, die diese Ziele teilen. Das Ergebnis der weltweiten Verbindung von Handel und Finanzmärkten ist eine Spaltung der Welt. Mit der globalen Verflechtung von Märkten und Informationen wächst die Kluft zwischen Arm und Reich, innergesellschaftlich und vor allem weltweit. Die Grenze verläuft zunehmend zwischen Gewinnern und Verlierern der wirtschaftlichen Globalisierung. Umweltzerstörung und Hunger in vielen Ländern der Erde, Rassismus, Nationalismus und Gewalt, die Unterdrückung von Frauen und die Ausbeutung von Kindern sind nicht zurückgegangen, sondern größer geworden. Deshalb ist Widerstand gegen diese Globalisierung richtig und notwendig. Zu einer weltweiten Wende und Kurskorrektur zu kommen, gehört zu den größten Herausforderungen und Aufgaben der Politik in den kommenden Jahren und Jahrzehnten. Die Lücke zwischen ökonomischer Globalisierung und der mangelnden politischen Steuerung und Einbettung dieses Prozesses ist zu schließen. Die Europäische Union ist der bisher weitreichendste Ansatz für eine gemeinsame Verantwortung von Staaten, die dafür Teile eigener Souveränität abgegeben haben. Die EU muss ihre neoliberale Fixierung in der Wirtschaftspolitik verlassen und eine noch aktivere internationale Rolle bei der sozialen und ökologischen Gestaltung der Globalisierung spielen. Die Globalisierung von Unsicherheit ist weltweit ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Tatsächlich wächst seit Jahren privatisierte, kommerzialisierte und terroristische Gewalt. Sie wütet vor allem in den innerstaatlichen „neuen Kriegen“, die seit dem Ende des Ost-West-Konfliktes in den Vordergrund treten und mit dem Zerfall von Staatlichkeit einhergehen. Der Internationale Terrorismus bedroht den Weltfrieden. Seine Bekämpfung muss sich nicht nur gegen die Urheber richten, sondern auch gegen die Ursachen des Hasses, aus denen Terroristen den Nährboden für ihre schrecklichen Anschläge gewinnen. Dabei sind die Normen des internationalen Rechts und die Verhältnismäßigkeit zu beachten.

Die Stärkung der Vereinten Nationen ist zentral für Legitimation und Wirksamkeit des Kampfes gegen den Terrorismus. Individualisierung. Die Menschen in unserer Gesellschaft sind eigenständiger und selbstbewusster geworden. Sie wollen freier leben. Lebensformen und Lebensstile, die heute Anerkennung finden, wurden noch vor wenigen Jahrzehnten diskriminiert und ausgegrenzt. Wir sind froh um die Vielfalt in unserer Gesellschaft und wollen uns dort für Pluralismus einsetzen, wo er noch ein uneingelöstes Versprechen ist. Individualisierung kann gleichzeitig die Probleme sozialer Ungleichheit verschärfen, da sie Vereinzelung und Entsolidarisierung mit sich bringen kann. Traditionelle soziale und kulturelle Bindungen werden schwächer. Deshalb müssen neue Formen gesellschaftlichen Zusammenhalts gestärkt werden. Eine neue Gestaltung sozialer Sicherheit ist nötig, die in Netzwerken auch individuell eingegangene neue Bindungen nutzt. Neue Informationstechnologien. Mit hoher Geschwindigkeit entstehen die Umrisse einer Weltgesellschaft, in der Wissen die entscheidende Produktivkraft ist. Vorangetrieben durch das Internet entsteht ein Netzwerk des globalen Informationsaustauschs und der globalen Kommunikation. Das Netz bietet neue Möglichkeiten demokratischer Partizipation und gesellschaftlicher Organisation. Es verändert die Struktur der Wirtschaft im globalen Maßstab, schafft neue Arbeitsplätze und lässt alte verschwinden. Die Frage der Zugangsgerechtigkeit stellt sich hier in besonderer Weise. Wir wollen den freien und gleichberechtigten Zugang zu Informationen – und keine Spaltung in Informationsreiche und Informationsarme. Und wir brauchen ein Bildungssystem, das die neuen Qualifikationen der Wissensgesellschaft auch wirklich in die Breite vermitteln kann.

Der Einsatz bio- und gentechnologischer Verfahren in vielen Bereichen von Medizin, Landwirtschaft und Nahrungsmittelherstellung stellt unsere Gesellschaft vor völlig neue Fragen. Die neuen Erkenntnisse und die neuen Eingriffsmöglichkeiten werden unser Bild vom Menschen, unsere Vorstellung von Krankheit und Gesundheit ebenso verändern wie unsere Sicht auf die Natur. Dies verlangt eine Verständigung der Gesellschaft darüber, welche Chancen sie nutzen und welche Risiken sie vermeiden will. Eine verantwortungsvolle Politik muss tunlichst vermeiden, Bürgerinnen und Bürger vor vollendete Tatsachen zu stellen. Politische Entscheidungen, die unumkehrbare Folgen für die Gesellschaft mit sich bringen können, sollten auf weitgehendem gesellschaftlichen Konsens beruhen. Nicht alles, was technisch machbar ist, ist auch ethisch und politisch legitim. Die Freiheit des Menschen erweist sich auch in seinem Vermögen, ethische und rechtliche Grenzen des Machbaren zu ziehen, um die Menschenwürde zu schützen. Demografischer Wandel. Unsere Gesellschaft wird älter. Aufgrund des Rückgangs der Geburtenrate und der wachsenden durchschnittlichen Lebenserwartung sinkt der Anteil des im Erwerbsarbeitsleben stehenden Teils der Bevölkerung. Der daraus sich ergebende kulturelle Wandel erfordert vor allem, dass unsere Gesellschaft die Frage der aktiven Integration der Älteren löst.

Diese Entwicklung stellt auch das gesamte Sozialversicherungssystem vor weitreichende Herausforderungen. Denn dessen traditionelle Finanzierungsbasis schrumpft. Auch unsere Steuer-, Bildungs- und Beschäftigungssysteme müssen sich im Zuge des demografischen Wandels verändern. Der demografische Wandel stellt die Gerechtigkeitsfrage neu. Migration. Weltweit wachsen die Migrationsströme – bedingt durch wirtschaftliche und kulturelle Umbrüche, kriegerische Konflikte und ökologische Krisen. Internationale Strukturpolitik muss sich dieser Entwicklung stellen. Europa kann sich nicht als Wohlstandsinsel gegen die übrige Welt abschotten. Nicht zuletzt aus demografischen Gründen sind die europäischen Gesellschaften auf Zuwanderung angewiesen. Aus historischen und humanitären Gründen verteidigen wir gleichzeitig das individuelle Grundrecht auf Asyl. Einwanderung ist eine produktive Kraft. Unser Land, früher jahrhundertelang ein Auswanderungsland, ist faktisch längst zum Einwanderungsland geworden. Einwanderung erfordert auch gleichberechtigte politische, soziale und kulturelle Teilhabe von Migrantinnen und Migranten. Der Umgang mit Neuankömmlingen und Fremden ist ein Gradmesser für die Offenheit unserer Gesellschaft.

 Unser Leitbild ist das gleichberechtigte Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Herkunft bei Anerkennung ihrer kulturellen Vielfalt. Dafür setzt unsere Verfassung den politischen Rahmen. Veränderung im Geschlechterverhältnis. Die Lebensentwürfe von Frauen haben sich in den letzten Jahrzehnten enorm verändert. Moderne Lebensentwürfe, die Berufstätigkeit und Familie gleichermaßen als selbstverständlich begreifen, haben sich durchgesetzt. Dennoch sind Hierarchien und Machtunterschiede zwischen den Geschlechtern längst nicht beseitigt. Das gegenwärtige, noch von Ungleichheit geprägte Geschlechterverhältnisist auch ein strukturelles Gewaltverhältnis. Bündnisgrüne Politik will dies durch ein neues, egalitäres und gewaltfreies Verhältnis der Geschlechter, eine tatsächliche Geschlechterdemokratie und eine Kultur des Friedens ablösen. Dank der politischen Erfolge der Frauenbewegung haben Frauen zwar ihre gesellschaftlichen und politischen, ihre privaten und ihre beruflichen Handlungsräume erweitern können. Doch die Lebensrealitäten von Frauen – und vielen Männern – sind weiterhin von einer Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit bestimmt. Den Veränderungen in den persönlichen Vorstellungen von privaten und gesellschaftlichen Geschlechterarrangements stehen beharrliche, männlich geprägte gesellschaftliche Strukturen, kulturelle Muster und Einstellungen gegenüber. Die Politik basiert noch oft auf Leitbildern von sozialer Arbeitsteilung, Familie und Berufsbiografien, die den Lebensvorstellungen von Frauen nicht entsprechen. Trotz aller Fortschritte ist die Selbstbestimmung der Frauen und die gleichberechtigte Teilhabe am ökonomischen, sozialen und politischen Leben noch nicht erreicht – das gilt im nationalen wie im internationalen Maßstab. Für BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bleiben Frauenemanzipation und Geschlechterdemokratie deshalb zentrale Herausforderungen für alle Politikfelder. Man steigt nicht zweimal in denselben Fluss. Verändert hat sich seit unserem Grundsatzprogramm von 1980 nicht nur die Welt um uns herum.

Auch wir haben uns verändert. Aus der westdeutschen grünen Partei entstand nach den Umwälzungen des Jahres 1989 durch Fusion mit der grünen Partei der DDR und Zusammenschluss mit Gruppen aus den ostdeutschen Bürgerrechtsbewegungen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. Mit der Vereinigung zu BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und dem Grundkonsens von 1993 wurden wir endgültig eine gesamtdeutsche Partei. Ohne die Vorstellung des „ganz Anderen“ hätten wir den erfolgreichen Einbruch bündnisgrüner Ideen in die politischen Systeme in Ost und West sicherlich nicht erreicht. Inzwischen sind wir nicht mehr „Anti-Parteien-Partei“, sondern die Alternative im Parteiensystem. Die entscheidende Veränderung war, dass wir uns zu einer Reformpartei entwickeln wollten und mussten, um erfolgreich zu bleiben. Unsere politischen Visionen und Ziele wollen wir heute durch eine langfristig angelegte Reformstrategie erreichen. Am stärksten hat sich unsere politische Rolle seit der Gründung deshalb geändert, weil wir in den letzten 20 Jahren außerordentlich erfolgreich waren. Themen, mit denen wir zu Beginn als Außenseiter auftraten, sind heute im Zentrum der Gesellschaft angekommen. Ökologische Verantwortung ist als Eckstein jeder zukunftsfähigen Politik weitgehend anerkannt, wenn auch noch nicht durchgesetzt; erweiterte demokratische Teilhabe aller, Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern, Akzeptanz von Minderheiten, Öffnung gegenüber kultureller Vielfalt – das sind nur einige der Perspektiven, die wir im Verein mit gesellschaftlichen Akteuren in unserer Gesellschaft verankert haben. Wir Bündnisgrünen haben in den letzten 20 Jahren nicht nur neue Themen gesetzt, sondern – zum Beispiel mit dem Eintreten für die Quotierung – auch zur Erneuerung der politischen Kultur beigetragen. Aus dieser Tradition heraus stellen wir uns der Aufgabe, die Demokratie weiterzuentwickeln. Parteien sind dabei nicht Selbstzweck, sondern haben eine dienende Aufgabe. Ein Schlüssel zur Weiterentwicklung der demokratischen Institutionen und der Stärkung der Gewaltenteilung liegt in einer Reform des Parlamentarismus, der die einzelnen Abgeordneten in ihrer Verantwortlichkeit stärkt. Gleichzeitig geht es uns um die Weiterentwicklung der Bürgergesellschaft und des zivilgesellschaftlichen Engagements. Das setzt voraus, dass möglichst viele Menschen in die Lage versetzt werden, sich in ihre eigenen Angelegenheiten einzumischen. Dies gilt vor allem für die Bereiche der Ökonomie und der Wissenschaft, in denen immer mehr gesellschaftliche Weichenstellungen entschieden werden. Als erfolgreiche ModernisiererInnen haben wir die Grundlage geschaffen für breite gesellschaftliche Reformbündnisse.

Wir finden heute PartnerInnen auch dort, wo vor Jahrzehnten nur Widerstand zu finden war. Dabei wissen wir, dass zur Erreichung des grundlegenden gesellschaftlichen Wandels, für den wir eintreten, auch weiterhin viele Kämpfe auszufechten sein werden. Wir setzen darauf, diese Veränderungen aus der selbstkritischen Entfaltung der Fantasie und Kreativität unserer Gesellschaft voranzutreiben. Mit den Schlüsselprojekten modernisieren wir unsere Gesellschaft entlang unserer Grundwerte, anstatt den Herausforderungen strukturkonservativ entgegenzutreten. So wollen wir der Modernisierung eine grüne Richtung geben. Mit dem Aufbruch ins Solarzeitalter thematisieren wir die grüne Energiepolitik als Antwort auf die ökologische Herausforderung. Ökologisch mobil setzt grüne Ziele für eine nachhaltige Mobilität. Transparenz für Verbraucherinnen und Verbraucher benennt grüne Prioritäten zur Erneuerung der Marktwirtschaft. Neue Landwirtschaft heißt die Perspektive für einen neuen Interessenausgleich zwischen Bauern und Verbrauchern im Sinne nachhaltiger Entwicklung. Das Projekt Gesamtdeutsche Zukunft entwickelt grüne Perspektiven für Ostdeutschland. Das Konzept der Grundsicherung benennt unsere Perspektive für eine neue Grundlage sozialer Sicherheit. Das Projekt Kindernasenhöhe macht Generationengerechtigkeit praktisch. Wissenszugang als Bürgerrecht ist die zentrale bildungspolitische Herausforderung, die vor uns liegt. Frauen an die Macht dreht sich zentral um gleiche Chancen für beide Geschlechter zur Definition und Ausgestaltung gesellschaftlicher Entwicklung. Die Einwanderungsgesellschaft sehen wir als die Chance zur Entwicklung einer weltoffenen, multikulturellen Demokratie. Das Europa der Bürgerinnen und Bürger stellt bei der europäischen Integration die Demokratie in den Mittelpunkt. Fairer Welthandel und internationale Standards sind zentrale Anliegen im Rahmen unseres Engagements für Internationale Gerechtigkeit.

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